Titel
Ranke-Studien.


Autor(en)
Duchhardt, Heinz
Reihe
Neue Aspekte der Ranke-Forschung
Erschienen
Anzahl Seiten
185 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Muhlack, Historisches Seminar, Universität Frankfurt am Main

Heinz Duchhardt setzt mit diesem Buch die beeindruckende Serie seiner „Ranke-Studien“ fort und eröffnet mit ihm zugleich eine Buchreihe, die „neuen Aspekten der Ranke-Forschung“ gewidmet sein soll. Was ihn dazu bewegt, sich Ranke zuzuwenden, ist ein offensichtliches Ungenügen an der bisherigen Literatur, die ihm, bei allem Respekt, durchaus lückenhaft zu sein scheint. Er interessiert sich besonders für die „äußere“ Biographie Rankes: für die Umstände, in denen er gelebt und gewirkt hat, für Herkunft und Familie, für seine Beziehungen zu Personen und Institutionen, für seine politisch-soziale Stellung, für die „Außenseite“ seiner historiographischen Hervorbringungen. Es geht, in einem Wort, um die, wie Duchhardt auch sagt, „Historisierung“ Rankes1, und zwar in dem elementaren Sinn einer auf die Ermittlung „harter“ Informationen gerichteten empirischen Recherche. Natürlich fehlt es dazu keineswegs an Vorarbeiten, aber Duchhardt macht doch, auch über die zuletzt von Günter Johannes Henz2 gesammelten Daten hinaus und gestützt auf bisher so nicht ausgewertete gedruckte Quellen und auf bisher ungedruckte Archivalien, überall Neuentdeckungen. An dem beträchtlichen Erkenntniswert dieser Forschungen ist nicht zu zweifeln. Auch wenn es bei Ranke zuletzt auf die „innere“ Biographie, auf seine „innere Entwicklung“ als Geschichtsschreiber3 ankommt, so stellt das „äußere“ Dasein nun einmal den konkreten Kontext dar, in dem sie vor sich geht.

Die erste der sechs in dem vorliegenden Buch abgedruckten Abhandlungen liefert einen Baustein zu Rankes Familiengeschichte. Duchhardt stellt darin Rankes bisher von der Forschung weithin ignorierte älteste Schwester Johanna vor. Er versteht es, die spärlichen Quellennachrichten, auch mit geschicktem Einsatz von Hintergrundwissen, so zu arrangieren, dass ein anschauliches Bild vom Leben dieser Frau entsteht. Der Historiker hatte zu seiner Schwester offenbar ein eher peripheres Verhältnis. Dagegen rührt der zweite Text, der, ausgehend von Rankes zunehmender Erblindung, dessen Beziehungen zu anderen blinden oder fast blinden Personen in seiner Umgebung verfolgt, an ein existentielles Problem in Rankes Leben. Duchhardt hat sich über diesen ganzen Komplex schon für frühere Veröffentlichungen kundig gemacht und teilt auch jetzt Neues und Überraschendes mit.

Sehr instruktiv sind die drei folgenden Beiträge über Rankes Position in der außeruniversitären „Wissenschaftslandschaft“ (S. 7) der preußischen Hauptstadt. Zunächst bringt Duchhardt Nachträge zu einem früheren Artikel über Rankes Aktivitäten in der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften4, der er seit 1832 angehörte. Während er dort Rankes Mitwirkung bei der Wahl neuer Ordentlicher und Korrespondierender, zumal ausländischer Mitglieder behandelt, thematisiert er jetzt Rankes Beteiligung an einer Statutenrevision und an der Vergabe der damals beliebten akademischen Preisfragen. Daran schließen sich Artikel über Rankes 19-jährige Tätigkeit als Kanzler des Ordens Pour le Mérite, in den er 1855 aufgenommen worden war, und über Rankes Rolle bei der Vergabe des sogenannten Verdun-Preises, den Friedrich Wilhelm IV. 1844 in Erinnerung an den Vertrag von 843, der im Jahr zuvor als Auftakt einer tausendjährigen deutschen Geschichte gefeiert worden war, gestiftet hatte und durch den alle fünf Jahre ein herausragendes Werk aus diesem Themenbereich ausgezeichnet werden sollte.

Man wird mit Duchhardt sagen müssen, dass Ranke in allen diesen Zusammenhängen vorrangig Personalpolitik in eigener Sache betrieb. Er ließ nichts unversucht, um, direkt oder indirekt, Vertreter seiner Schule oder einer ihr nahestehenden Wissenschaftsauffassung zu fördern und die Berücksichtigung konträrer Richtungen zu verhindern. Im jeweiligen Ringen um den „historischen“ Verdun-Preis trat das besonders zutage. So setzte Ranke 1858 durch, dass sein Schüler Wilhelm von Giesebrecht mit seiner „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ anstelle von Johann Gustav Droysens „Geschichte der preußischen Politik“ zum Zuge kam, und es war signifikant, dass er selbst, in jeweils entgegengesetztem Sinne, über beide Autoren gutachtete. Von „Nepotismus“ konnte dabei im Laufe der Zeit umso weniger die Rede sein, als es immer schwerer fiel, „Autoren aus anderen wissenschaftlichen Schulen mit einem hohen Renommee überhaupt zu finden“, da schließlich „schlicht die Ranke-Schule […] mit weitem Abstand das Feld beherrschte“ (S.136f.). Ranke konnte es daher auch verschmerzen, dass Droysen nach weiteren erfolglosen Nominierungen am Ende, 1873, doch noch den Preis erhielt: „Hatte er damit dann doch seinen Frieden mit dem Kollegen gemacht?“ (S. 136) Abgesehen von diesem personalpolitischen Interesse, mied Ranke jede Gremienarbeit oder suchte sie, wenn es, wie im Falle der Statutenrevision, nicht anders ging, auf das Nötigste zu beschränken: er dachte zuerst „an seine Karriere, an seine Forschungen, an seine Bücher, an seinen Part im öffentlichen Leben“ (S. 65).

Im abschließenden „Essay“ (S. 150) blickt Duchhardt über die Grenzen der „äußeren“ Biographie hinaus auf Rankes Geschichtsschreibung und zwar auf dem Umweg über die Rezeptionsgeschichte. Der Text verdient daher hier etwas eingehender diskutiert zu werden.

Thema sind Rankes 1834–1836 erschienene „Römische Päpste“, „vornehmlich im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert“, in der Sicht des seinerzeit weithin bekannten deutschen Historikers Johannes Haller, der, als Krönung jahrzehntelanger Forschungen, rund hundert Jahre später, zwischen 1934 und 1945, ein großes Werk über „Das Papsttum“ im Mittelalter herausgebracht hat. Duchhardt will an diesem Beispiel „die Grundrisse einer speziellen Rezeptionsgeschichte“ nachzeichnen (S. 150). Grundlage ist, soweit gedruckt, die Korrespondenz Hallers, mit ergänzenden Mitteilungen aus dessen „Lebenserinnerungen“. Das Ergebnis ist zwiespältig. Während Hallers allgemeines Urteil über Ranke sich, nach anfänglicher Kritik an der vermeintlichen „,Rankeschen Manier‘“, lediglich faktengläubig „,zu zeigen, wie es gewesen‘“ (S. 157), immer mehr zum Positiven wandelte, blieb seine Einstellung gegenüber den „Päpsten“ eher negativ. Schon als junger Mann will er nach der Lektüre der „Vorrede“ zu Rankes Werk, die er „,zu aphoristisch‘“ fand, den Gedanken gefasst haben, „,selbst Geschichtsschreiber der Päpste zu werden‘“ (S. 163), und noch im hohen Alter, als sein eigenes Werk kurz vor dem Abschluss stand, bemängelte er vor allem Rankes gelegentliche „,Gleichgültigkeit gegen den stofflichen Aufbau und die Gesetze der Oekonomie‘“ (S. 168). Duchhardts Resümee legt den Akzent zwar mehr auf die positive Seite, hält aber fest, daß „Haller in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz anders schrieb als Ranke“ (S. 169).

Dieser Befund ist zunächst kaum verwunderlich. Wie sollte es nach einem Abstand von hundert Jahren auch anders sein! Es stellt sich aber die Frage, warum Haller anders schrieb, was ihn, ausgehend von dem neuen zeitlichen Ansatz seines Werks, von Ranke unterschied, was Rankes, was Hallers historiographisches Problem war. Duchhardts Material gibt dazu nichts her. Die zitierten Briefstellen sind sporadisch, ohne systematischen Zusammenhang und beziehen sich auf stilistische Einwände, berühren jedenfalls nirgends Rankes thematische Konzeption. Duchhardt sagt selbst einmal, dass solche Kritik „letztlich ja auch nicht den Kern des Werkes betraf“ (S. 169). Es mag sein, dass, wie er vermutet, sich aus noch ungedruckten Briefen weitere Auskünfte ermitteln lassen. Aber offenbar kann hier nur eines wirklich weiterhelfen: nämlich der Rekurs auf die Werke selbst, eine vergleichende Betrachtung des rezipierten und des „anders geschriebenen“ Werks.

Nur an einer Stelle unternimmt Duchhardt einen Schritt in diese Richtung: indem er Rankes „Vorrede“ mit Hallers „Vorwort“ konfrontiert, die beide einer Textsorte angehören, bei der man am ehesten auf grundsätzliche Aussagen gefasst ist. Aber Duchhardt belässt es bei wenigen Bemerkungen, die, im Anschluss an die Kritik des jungen Haller an Rankes „Vorrede“, eher formaler Natur sind. Danach soll das „Vorwort“ Hallers „substantieller“ sein als die „Vorrede“ Rankes (S. 165), also Genaueres über die thematischen Absichten des Autors enthalten. Das trifft allerdings für Ranke nicht zu, der sich zwar kurzfasst, aber nur, um seine Problemstellung desto prägnanter zu benennen. Soweit sich Duchhardt bei der Durchsicht der beiden Texte zu Thematischem äußert, geschieht das lediglich indirekt und andeutungsweise. Man erfährt Beiläufiges über Hallers „Konzept der Gesamtgeschichte“ des Papsttums (ebd.) und fast gar nichts über das Konzept der „Römischen Päpste“. Die Paraphrase der Rankeschen „Vorrede“, die Rankes angeblichen Mangel an „Substanz“ beweisen soll, ist tatsächlich ihrerseits kaum aussagekräftig, ja, was den konfessionellen Aspekt der „Päpste“ betrifft, sogar missverständlich und bestenfalls so unverbindlich, dass sie nichts „Substantielles“ ausschließt. Ein Vergleich findet nicht statt.

Man kann dem Verfasser aus alledem keinen Vorwurf machen. Er ist frei, sein Untersuchungsfeld so zu begrenzen, wie er das tut. Nichts ist legitimer. Es steht auch außer Frage, dass ihm dabei, auf einem auch für künftige Projekte interessanten Forschungsgebiet, treffende Beobachtungen gelungen sind, die eine erste Orientierung über seinen Gegenstand ermöglichen. Ein anderes ist es, dass sich die „Grundrisse“ dieser „speziellen Rezeptionsgeschichte“ erst dann folgerichtig ausziehen lassen, wenn man darüber hinausgeht. Duchhardt hat das doppelte Verdienst, dass er eine solche Rezeptionsgeschichte erfolgreich in Angriff genommen und zugleich kenntlich gemacht hat, was noch zu tun ist. Man darf auf weitere „Ranke-Studien“ aus seiner „Werkstatt“ gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Heinz Duchhardt, Der Alte Ranke. Politische Geschichtsschreibung im Kaiserreich, Berlin 2023, S. 13.
2 Günter Johannes Henz, Leopold von Ranke in Geschichtsdenken und Forschung, 2 Bde., Berlin 2014.
3 Otto Vossler, Rankes historisches Problem, in: Ders., Geist und Geschichte. Von der Reformation bis zur Gegenwart. Gesammelte Aufsätze, München 1964, S. 184–214, hier 192.
4 Heinz Duchhardt, Leopold von Ranke und die Preußische Akademie der Wissenschaften, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge 32 (2022), S. 111–142.

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